Eine Fundamentaleinschätzung der power2market Erdgas-Redaktion.
Bloomberg berichtet in einem Artikel, veröffentlicht am 301.12.2024, dass die Futures für Erdgas auf längerfristig höhere Preise hindeuten.
Der Preis stieg 2024 um ca. 45% und lag am 30.12.2024 am TTF bei 47,30 €/MWh.
Der starke Preisanstieg wird durch den Gas-Transit-Stopp durch die Ukraine verursacht, der zu einer zusätzlichen Verknappung des ohnehin engen Marktes führt – insbesondere auf dem globalen LNG-Markt. Hinzu kommen die rapide Entleerung der Erdgasspeicher und die in Deutschland zuletzt mehrfach aufgetretenen Dunkelflauten, die den Erdgasverbrauch erheblich gesteigert haben. Diese Faktoren könnten dazu führen, dass es im Sommer/Herbst 2025 schwierig wird, die Erdgasspeicher entsprechend den gesetzlichen Vorgaben aufzufüllen.
Wie in einigen diesbezüglichen Artikeln bereits beschrieben, haben weder Österreich noch die Länder Slowakei, Slowenien oder Tschechien ein Problem mit Entry-Kapazitäten (Einspeisekapazitäten). Die Befürchtungen liegen vielmehr, wie bereits erwähnt, in der tatsächlichen oder angenommenen – möglicherweise übertriebenen – Enge der aktuellen Marktgegebenheiten.
Der Ausfall von 15 bcm (billion cubic meter) pro Jahr durch den Transit-Stopp in der Ukraine entspricht weniger als 5 % des EU-Verbrauchs, hätte jedoch für einzelne Länder wie die Slowakei, Österreich und Tschechien eine erhebliche zusätzliche finanzielle Belastung bedeutet, falls die deutsche Speicherumlage nicht entfallen wäre (Speicherumlage: Deutschland schafft „Wegelagerei“ ab). Die zentrale Frage ist, ob es durch den Transit-Stopp tatsächlich zu einem Ausfall von 15 bcm oder doch zu einer deutlich geringeren Menge kommen würde. In letzterem Fall wäre der Erdgasgroßhandelsmarkt weniger angespannt, als es in einigen Branchen-Artikeln dargestellt wird.
Die Slowakei kann von ihrem üblichen Verbrauch von 5 bcm etwa 1,5 bcm über Ungarn beziehen, wobei die Versorgung über die Turkstream-Pipeline erfolgt. Darüber hinaus wird die potenziell entlastende Rolle der Türkei bislang kaum berücksichtigt. Die Türkei könnte Gazprom ermöglichen, die Blue-Stream-Pipeline (mit einer Kapazität von 16 bcm, die Russland durch das Schwarze Meer mit der Türkei verbindet) sowie beide Stränge der Turkstream-Pipeline (jeweils mit einer Kapazität von 16 bcm) vollständig auszulasten. Dadurch würde der LNG-Bedarf der Türkei aufgrund der erhöhten Pipeline-Lieferungen durch Gazprom sinken, was eine Umlenkung der LNG-Mengen nach Süd- und Westeuropa ermöglichen könnte.
Eine weitere wichtige Frage ist, wie eine Win-Win-Situation aus der Perspektive von Gazprom und der Türkei gestaltet werden könnte. Ein Großteil der LNG-Lieferungen in die Türkei ist ölindexiert und damit derzeit günstiger als hubindexiertes Pipeline-Gas. Dies könnte Raum für einen Modus Operandi schaffen, von dem auch die EU profitieren könnte. Zusätzlich wäre es denkbar, dass eine geringe Menge Gas gegen die Flussrichtung über die Transbalkans-Pipeline in Richtung Ukraine geleitet werden könnte.
Berücksichtigt man diese Möglichkeiten, wäre der tatsächliche Ausfall deutlich geringer als die angenommenen 15 bcm pro Jahr. Dadurch wäre der Erdgasmarkt weniger angespannt, und die Wiederbefüllung der Speicher würde weniger herausfordernd ausfallen. Dies gilt insbesondere unter dem Aspekt, dass im Laufe des Jahres 2025 zusätzliche Verflüssigungskapazitäten (Liquefaction) verfügbar werden. Zwar wird der Großteil dieser Kapazitäten erst im dritten oder vierten Quartal online gehen und eine Hochlaufphase benötigen, jedoch wird im Winter weniger Erdgas aus den Speichern entnommen, sodass die Speicher nicht zwingend weit über 90 % befüllt werden müssen.
Zudem ist zu berücksichtigen, dass der fortschreitende Ausbau erneuerbarer Energien (RES) tendenziell den Erdgasbedarf für die Stromerzeugung weiter reduziert. Zusätzlich wiegt schwer, dass in der EU derzeit kein signifikanter Wirtschaftsaufschwung absehbar ist. Insbesondere im Industriesektor wird aufgrund der angekündigten Zollpolitik des zukünftigen US-Präsidenten mit weiteren Verbrauchsreduktionen gerechnet.
Vor diesem Hintergrund erscheint der derzeitige Großhandelspreis für Erdgas überhöht. Allerdings basieren Marktentscheidungen nicht nur auf rationalen Analysen, sondern auch auf Faktoren wie Informationsasymmetrie, Unsicherheit, Risikoaversion, individueller Profitmaximierung und Angst – alles schwer quantifizierbare Einflussgrößen.
Es entsteht der Eindruck, dass eine Versorgungsschwierigkeit möglicherweise aus Unwissenheit herbeigeredet oder -geschrieben wird. Die oft diskutierte „Abhängigkeit“ vom russischen Erdgas und die damit verbundene nervöse Volatilität könnten mittel- bis langfristig eher auf die deutlich verminderte Auslastung von Infrastrukturen wie Pipelines und Speichern zurückzuführen sein. Diese geringere Auslastung, bedingt durch den Wegfall von Transitströmen, könnte wiederum zu höheren Transport- und Speichertarifen führen. Solche steigenden Infrastrukturtarife stellen jedoch eine zusätzliche Belastung für eine ohnehin schwächelnde Wirtschaft dar.